Junger Bursche, Gigolo, Grandseigneur: Der Grüne Veltliner ist wandlungsfähig wie ein Burgschauspieler. Er beherrscht alle Rollen. Und alle mit dem gewissen Etwas. Ich habe ihn getroffen.
„Küss die Hand, Gnädigste“, raunt der Grüne Veltliner mir während einer Reserve- Verkostung zu, lässt sich mir gegenüber nieder und rückt sein Stecktuch gerade. Ich verdrehe innerlich die Augen. Aber dann, nach ein paar Schlucken, dieser Charme, dieses Schmalz: Niveau hat der Kerl auf jeden Fall. Wie er dasitzt, das eine Bein lässig über das andere geschlagen. Feines Tuch. Klassisches Schuhwerk. Die langfingrigen, gepflegten Hände auf dem Oberschenkel ruhend. Im Haar graue Strähnen. Ein Mann in den besten Jahren. Sein funkelnder Blick ist auf mich gerichtet, als ob ich die Einzige wäre auf dieser Welt. Er strahlt Weltgewandtheit aus. Aber ohne Fadesse, sondern mit lebenslustiger Erdung.
Er duftet fein nach Äpfeln und Birnen. Und gleichzeitig hat er Pfeffer. So eine Mischung aus altem Adel und radikalem Umstürzler. Man merkt: Der Mann hat die Bodenhaftung nie verloren. Für mich unwiderstehlich. Warum? Weil ich Facettenreichtum liebe. Das Sowohl-als-Auch. Ein Entweder-Oder langweilt mich zu Tode. Wir unterhalten uns über die Zerrissenheit in Rachmaninows zweitem Klavierkonzert und tauschen schlüpfrige Schüttelreime aus. Etwa jenen: „Das Zimmer sich mit Helle füllt, das Mädchen sich in Felle hüllt, doch wehe, wenn die Hülle fällt, und nichts mehr diese Fülle hält“.
Und er liebt Essen. Ein Genießer halt. Er mag wirklich jede Speise – von österreichisch-deftig bis asiatisch-scharf. Es dauert keinen Verkostungsabend, schon hat mich der Kerl um den Finger gewickelt. Ich weiß, er wird nicht zurückrufen. Trotzdem gebe ich ihm meine Telefonnummer.
Schlank, aber nicht dünn. Kantig, aber nicht eckig.
Einige Zeit später treffe ich ihn zufällig wieder. Bei einer Weinviertler Jahrgangspräsentation. Er schaut vollkommen anders aus – jünger, irgendwie stürmischer. Nichts mehr mit Mann in den besten Jahren. Außerdem scheint er ein bisschen trainiert zu haben, die Muskeln zeichnen sich unter seinem T-Shirt ab. Schon beim ersten Schluck spricht er mich an: „Glaubst du an Liebe auf den ersten Blick? Oder soll ich noch einmal hereinkommen?“ Alter Falter! Erstens: Der Typ kann sich nicht mehr an mich erinnern! Zweitens: Was für ein Schwachsinnsspruch!
Jedem anderen hätte ich eine Verbalwatschen gegeben. Aber der Kerl hat was. Mit seinem breiten Grinsen. Der offenen Körpersprache. Dem natürlichen Selbstbewusstsein, wenn er kehlig lacht oder zweideutige Kommentare macht. Und fesch ist er! Schlank, aber nicht dünn. Kantig, aber nicht eckig. Deshalb verrate ich nicht, dass wir uns schon kennen. Ich spiele das Spiel einfach mit. Doch ich wundere mich: Das ist doch nicht derselbe Grüne Veltliner, den ich vor kurzem erst kennengelernt habe! Und dennoch: Der Mann fasziniert mich. Wie wandlungsfähig der ist! Und dabei immer so echt. Wie macht er das?
Ich erfahre mehr von ihm. Der Grüne Veltliner ist ein Kämpfer. Auch wenn er aus einfachen Verhältnissen kommt, auch wenn er ab und zu einen Mangel an Wasser erdulden musste oder auf kargen Böden seine Wurzeln schlug, ist er von Natur aus mit Lebenskraft und Steherqualitäten ausgestattet. Manchmal, wenn er noch eine winzige Blüte ist, schlägt ihm frostige Kälte entgegen. Oder - als halbwüchsige Traube - akuter Wassermangel. Er überlebt! Immer! Klar, er lässt dabei ein paar seiner Beeren verloren gehen. Aber das ist nicht so tragisch wie bei anderen Rebsorten, weil der Veltliner von Natur aus zahlreich mit Beeren ausgestattet ist. Wenn er dann ein bisschen „abnehmen“ muss, konzentriert sich seine ganze Kraft auf die verbliebenen Beeren. Das ist ja das Faszinierende an ihm: Er macht aus allem etwas. Aus der Fülle oder dem Mangel. Und jetzt verstehe ich: Deswegen gibt es so viele Varianten von ihm.
Der Grüne Veltliner ist ein waschechter Österreicher und lebt auch am liebsten hier. Seine Mutter ist eine g’standene Frau aus der Familie der Traminer. Er ist ohne Vater aufgewachsen, erst spät hat er von ihm erfahren. Irgendein Burgenländer war der. Aus St. Georgen. Mit dem Namen Grünmuskateller. Hat sich einfach, auf gut österreichisch, „g’schlichen“, als der Bub unterwegs war. Heute kennt den Vater keiner mehr. Aber den Grünen Veltliner schon.
Klassisch fruchtig, frisch, aber durch die Matura ein bisschen nachdenklicher.
Herrn Veltliners Lebenswege sind sehr vielfältig, weil er von Natur aus so umfangreich begabt ist. Absolviert er die Pflichtschule „Stahltank“, kommt dabei ein Spaßgeselle heraus, auf den Verlass ist – jeden Tag. Jemand, mit dem man Pferde stehlen kann. Ein ungeschliffener Diamant eben. Stammt er von einer einzelnen Lage und macht Matura, also eine Mischung aus Stahltank und Holzfass, hat er alles, was er braucht, damit man das Leben mit ihm so richtig genießen kann. Klassisch fruchtig, frisch, aber durch die Matura ein bisschen nachdenklicher. Glücklicherweise ohne dabei sein angeborenes Pfefferl, seine Lebensfreude, zu verlieren.
Manchmal hat er die Möglichkeit, einen „Intensivkurs“ in einem großen oder kleinen Holzfass zu machen. Oder gar, wenn auch selten, im Barrique-Fass. Dann wird er komplexer. Ernster. Philosophischer. Nicht weil er umerzogen wurde. Nein! Man kann dem Kerl nichts „abtrainieren“. Aber ihn Etikette lehren - Feinheit und Eleganz. Das schmeckt man vor allem, wenn er ein bisschen älter ist. Aber dennoch schimmert immer so etwas Lausbubenhaftes durch.
Obwohl der Grüne Veltliner ein österreichisches Original ist, schätzt man ihn überall auf der Welt. Vielleicht, weil er so viele Sprachen spricht und dabei aber einen nonverbalen, ewiggültigen Charme hat. Oder weil er so eine authentische, ungekünstelte Vielschichtigkeit besitzt. Deshalb wird er in letzter Zeit als Baby, also als junger Weinstock, gerne adoptiert und zum Beispiel in Neuseeland oder Australien großgezogen. Dann heißt er „Gruner“ – und genauso, wie ihm das typisch deutschsprachige Ü genommen wird, verliert er für meine Begriffe alles andere Typische auch. Das halte ich für entbehrlich.
Der Grüne Veltliner ist deshalb so faszinierend, weil er so wandlungsfähig ist. Er kann durchaus burgundische Noblesse haben und auch erdige Breite oder knackige Frische. Oder alles gleichzeitig. Weil er dafür das Potenzial besitzt.
„Vielleicht“, erklärt er mir am Ende der Verkostung, „sollte ich meinem Vater dankbar sein. Er hat mich zwar im Stich gelassen, aber ich habe eben auch seine Gene. Und nicht nur die meiner Mutter. Diese Kombination ist doch wirklich gut – schau mich an!“ Er breitet die Arme aus und lächelt siegessicher. Wenig später, auf dem Heimweg, merke ich, dass ich mich ein bisschen verknallt habe. Mein Gott, als wäre ich noch sechzehn! Ich muss ein bisschen über mich selber lachen. Und genieße gleichzeitig diese Schwärmerei.
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